Der Gott, der mich sieht

El-Roi

Abraham Meister, Namen des Ewigen (2. Auflage.; Dübendorf: Verlag Mitternachtsruf, 2006), S. 140–141:
El-Roi, «Gott des Sehens, oder des Gesichtes». Es ist zu bedenken, daß die göttliche Selbstoffenbarung ausschließlich an und durch Menschen geschieht. Sehr bedeutend ist, daß einer der tiefsinnigsten göttlichen Namen durch eine Frau gefunden und ausgesprochen wurde (1. Mose 16,13). Es war Hagar, welche den Namen Jahwes anrief, der zu ihr redete. Der Name war aus ihrer eigenen Erfahrung der Gnade in ihrer äußersten Not geboren. Sarai hatte Abraham beeinflußt, daß er einen Sohn von Hagar, der ägyptischen Magd, haben sollte. Hernach stellte sich die Herrin gegen sie und sie handelte hart mit ihr. Hagar floh darum von Sarai. In der einsamen Wüste, sicherlich von einem panischen Schrecken heimgesucht, fand sie der «Engel des Herrn» (s.d.) und gab ihr Trost und Rat.
Der Gottesname «El-Roi» ist ein unaussprechlicher Trost, der für ein erschüttertes Gemüt Wirklichkeit wurde. Abgespannte Nerven von der Flucht wurden beruhigt. Hagar saß bei der Wasserquelle in der Wüste. Sie dachte an ihre traurige Lage. Sie wurde durch die Unfreundlichkeit ihrer Herrin aus dem Zeltlager Abrams getrieben. Jetzt war sie allein in dieser trostlosen Wüste. Wohin sollte sie gehen, was wird ihr zustoßen? In ihrer großen Not fand sie der Engel des Herrn. Sie faßte alle ihre Gedanken zusammen in dem Namen für Gott, der ihr eingegeben wurde, auszusprechen: «El-Roi», «Gott des Sehens.» Jetzt kam ihre Rettung. Mit Gott zu sein, wenn Er sieht, ist ein Ereignis. Er sieht nicht mit einem kalten Auge einer gleichgültigen Allwissenheit. Es ist vielmehr die wachende Sorge des himmlischen Vaters. Gott, der dem Moseh im brennenden Busch erschien, sagte: «Ich habe die Not meines Volkes in Ägypten gesehen, … und ich bin gekommen, sie zu befreien» (2. Mose 3,7-8).
Der Name «El-Roi» wird verschieden übersetzt und aufgefaßt. Eine Übersetzung: «Ein Gott des Sehens» wird erklärt, «Gott sieht» und «Er erlaubte, Ihn zu sehen». Die Wendung: «attah El-Roi» wird übertragen: «Du bist ein Sehens-Gott», d.h. Er ist der Allsehende, dessen allsehendes Auge die Hilflose und Verlassene im entferntesten Winkel der Wüste sieht. Hagars Aussage: «hagum halom raithi achare roi» hat den Sinn: «Habe ich auch nicht hernach gesehen, dem der mich gesehen?» Einige Ausleger erklären nach «raith», «Ich bin sehend geblieben», d. i. nicht gestorben. Sachlich und sprachlich läßt sich diese Auffassung aus 2. Mose 33, 23 erklären. Jahwe ist der Hagar in Seinem Engel erschienen. Während der Engel Jahwes (s.d.) mit ihr redete, sah sie nichts, nachdem Er entschwand, kam ihr zum Bewußtsein, daß Gott es war, der mit ihr redete und sie in Gnaden ansah. In ihrem Elend ist sie dem gnädigen und treuen Auge Gottes nicht entgangen. Jahwe, der zu ihr redete, nannte sie mit Recht: «Du ein Sehens-Gott.» In Erinnerung an die Erfahrung heißt der Brunnen: «Beer-lachai-roi» – «Brunnen des Lebendigen und des Sehens, oder der mich sieht». Es soll den Sinn der allgegenwärtigen göttlichen Vorsehung haben. Onkelos übersetzt frei aber gut: «Brunnen des Engels des Lebendigen (maleach qajjama) der sich mir zu scheinen gab.»
Grundsätzlich wird die urtextliche Wendung noch anders erklärt. «Beer-lachai-roi» soll bedeuten: «Der Brunnen, der das Leben erhält, nachdem Gott gesehen wurde.» Diese Deutung wird durch einige Bibelstellen begründet (vgl. 1. Mose 32,30; 2. Mose 3,6; Richt. 13,22). Nach alttestamentlicher Auffassung war es erschreckend, Gott mit sterblichen Augen zu sehen, weil dann der Tod eintreten mußte. Dieser sonst bildliche Gedanke läßt sich mit dem Gottesnamen «El-Roi» nicht in Verbindung bringen. Hagar schaute in dem Engel Jahwes, wie alte Ausleger diese Stelle auffassen, «Christus». Wer Gott in Christo sieht, stirbt nicht, sondern genießt des Lebens Fülle.
Die Glückseligkeit der von Herzen Reinen, Gott zu schauen (Matth. 5,8), die noch aussteht, ist dem Alten Testament nicht ganz fremd. Gott fordert durch Jesaja auf: «Schaut auf mich, und ihr werdet errettet alle Enden der Erde!» (Jes. 45,22.) Obgleich Gott der Allheilige ist, vernichtet Er nicht das Leben, sondern ist auch gnädig, daß das Leben erhalten bleibt.
In dem Gedanken an Gottes allsehendem Auge liegt ein reicher Trost (vgl. Ps. 139,1-2). Wer wie Hagar in der Einsamkeit leben muß, darf sich aufrichten an der Zusage: «Die Augen Jahwes sind über denen, die ihn fürchten, auf denen, die auf seine Barmherzigkeit hoffen» (Ps. 33,18). Inmitten einer ungerechten und gottlosen Umgebung entgeht den Augen Gottes nicht die Not der Seinen. Petrus schreibt: «Die Augen des Herrn sind über den Gerechten, und seine Ohren merken auf sein Beten, das Angesicht des Herrn aber ist gegen die, die Böses tun» (1. Petr. 3,12). Solche und ähnliche Schriftstellen könnten in großer Anzahl angegeben werden. Zum Schluß möge der Hinweis auf das bekannte Wort genügen: «Ich will dich mit meinen Augen leiten» (Ps. 32,8). Wer ohne Rat und Ziel seinen Weg gehen muß, kann vor Fehltritten und Irrwegen bewahrt bleiben. Diese Stelle wird auch übersetzt: «Ich will dir ein Rat mit meinem Auge über dir sein!» Die Übertragung wird umschrieben mit den Worten: «Meine Augen sollen über dir sein, bewachend und leitend deinen Weg.» Der Gottesname «El-Roi» birgt im Licht der Bibel eine Fülle des Trostes in sich.
Schlüsseltexte der Bibel