Lektion 4: Den Kontext verstehen

Zwei Warnungen

Die Bibel erwartet von uns, dass wir sie in ihrem historisch-kulturellen Kontext auslegen. Dennoch möchten wir zwei Warnungen mitgeben, um das biblische Gleichgewicht für dieses Auslegungsprinzip zu gewährleisten:

Warnung 1: Inhalt vor Kontext

Was wir über den Kontext annehmen, sollte niemals negieren, was der Text klar sagt.
Viele Gelehrte und Pastoren sind so eingenommen von den vermeintlichen historischen Hintergründen, dass sie es versäumen zu unterstreichen, was der Text tatsächlich im Vordergrund sagt. —DeRouchie, How to Understand and Apply the Old Testament, 306, meine Übersetzung
Einige verwenden Hintergrundinformationen zu spekulativ und verdrehen manchmal den Text, um am Ende dem zu widersprechen, was er klar sagt. Aber der historische Kontext eliminiert den Text nicht, sondern er illuminiert ihn. —Naselli, How to Understand and Apply the New Testament, 163 ¹, meine Übersetzung
Ein Beispiel, das als Neue Paulus-Perspektive bezeichnet wird, betrifft eine Sicht des Judentums des ersten Jahrhunderts und seine Auswirkungen auf den theologischen Rahmen der Autoren des Neuen Testaments. Einige der Gelehrten, die diese Ansicht vertreten, haben wesentlich zu unserem Verständnis des kulturellen Umfelds von Jesus und der Urgemeinde beigetragen. Entgegen den klaren Belegen der Schrift behauptet die Neue Paulus-Perspektive jedoch, dass die Juden des ersten Jahrhunderts praktisch keine Vorstellung von einer Werksgerechtigkeit (oder Erlösung durch Werke) hatten. Das Ergebnis ist, dass diese Gelehrten an das Neue Testament herangehen, insbesondere an die Schriften des Paulus, und jene Passagen, in denen Paulus gegen die Rechtfertigung durch Werke argumentiert (zum Beispiel der ganze Galaterbrief), neu interpretieren – manchmal radikal neu. Sie sagen, weil die Juden zur Zeit des Paulus nie glaubten, dass die Erlösung durch Werke kam, muss Paulus etwas ganz anderes gemeint haben, als er sich auf die "Rechtfertigung durch Werke" bezieht (Galater 2:15-16; 3:10-12). Das Endergebnis ist, dass der Begriff Rechtfertigung eine ganz neue Bedeutung erhält, nicht nur in Bezug auf die Rechtfertigung durch Werke, sondern auch in Bezug auf die Rechtfertigung durch den Glauben, welche eine zentrale biblische Lehre ist. Ein rekonstruierter historischer Kontext bringt die klare Lehre der Heiligen Schrift zum Schweigen.²
Was wir über den Kontext annehmen, sollte niemals negieren, was der Text klar sagt.

Warnung 2: Die Bibel genügt

Die Bibel selbst genügt, um uns mit allem zu versorgen, was wir zur richtigen Auslegung brauchen. Wir dürfen nicht nach ultimativen Interpretationsschlüsseln außerhalb der Bibel suchen.
Das Stichwort hier ist ultimativ. Die Bibel ist ausreichend, und doch können historische und kulturelle Details aus externen Quellen unser Verständnis verbessern.
Betrachten wir als Beispiel die Worte Jesu an die Gemeinde in Laodizea:
Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist. Ach, dass du kalt oder heiß wärst! So aber, weil du lau bist und weder kalt noch heiß, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund. —Offenbarung 3:15-16
Viele haben die Metapher in diesem Text als Hinweis auf die eigene "geistliche Temperatur" interpretiert. Diese Interpretation geht davon aus, dass es diejenigen gibt, deren Herzen "für Jesus brennen", und im Gegensatz dazu haben diejenigen, deren Herzen kalt sind, überhaupt kein geistliches Interesse. So interpretieren sie diesen Text in dem Sinn, dass Jesus es vorziehen würde, dass diese Gemeinde für ihn entweder "heiß" oder "kalt" wäre, anstatt nur "lauwarm" oder zwiespältig.
Sorgfältiges Studium wirft jedoch ernsthafte Zweifel an dieser Interpretation auf. Wenn wir den ganzen Umfang der biblischen Unterweisung betrachten, scheint es unwahrscheinlich, dass Jesus es tatsächlich vorziehen würde, wenn jemand ihm gegenüber geistlich kalt ist und ihn tatsächlich ermahnt, diese Option zu wählen. Darüber hinaus können im Kontext sowohl heiß als auch kalt positiv betrachtet werden. Das passt eigentlich sehr gut zur erlebten Praxis. Heißes Wasser hat seinen Wert beim Waschen (sowohl bei Menschen als auch bei Dingen) und bei der Entspannung müder Körper. Kaltes Wasser ist erfrischend zu trinken. In keinem Fall - ob man nun erwartet, in ein heißes Bad zu treten oder ein Glas kaltes Wasser zu trinken - ist man mit lauwarmem Wasser zufrieden. Es ist nutzlos und unbefriedigend. So können wir die Worte Jesu in ihrem Kontext richtig interpretieren, indem wir einfach den breiteren Bogen der biblischen Unterweisung betrachten.
Weiteres historisches und geographisches Studium bestätigt diese Auslegung:
Das nahe gelegene Hierapolis war für seine heißen Quellen berühmt und Kolossä für seine kalten, erfrischenden Wildwasserbäche. Doch Laodizea hatte dreckiges, lauwarmes Wasser, das kilometerlang durch einen unterirdischen Aquädukt floss. Fremde, die nicht daran gewöhnt waren, spuckten es sofort wieder aus. MacArthur Studienbibel zu Offenbarung 3:16
Diese zusätzlichen Informationen bestätigen und verbessern eine bereits erkennbare Auslegung. Die Bibel selbst genügt, um uns mit allem zu versorgen, was wir zur richtigen Auslegung brauchen. Wir dürfen nicht nach ultimativen Interpretationsschlüsseln außerhalb der Bibel suchen.
Gerechtfertigt - aber wovon?pdf
Ein Artikel aus der Zeitschrift Idea Spektrum zur "Neuen Paulus-Perspektive".


Bibelauslegung