Lektion 9: Das Herz der Auslegung

Nicht zum Absturz bringen

Zwei Gefahren

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Flugzeug der biblischen Anwendung zum Absturz zu bringen: reiner Moralismus und abgehobene Abstraktion.

Fehler 1: Reiner Moralismus

Dieser Fehler ist ein Mangel an Christus-Bezogenheit. Man versucht, einen Text anzuwenden und lässt dabei Jesus und sein Evangelium aus. Und der Fehler ist fatal, weil er es verabsäumt, Jesus als denjenigen zu verherrlichen, der unseren Gehorsam befähigt. Tim Keller warnt uns:
Stell dir vor, du predigst durch einen Text, in dem es um Josef geht, der der Versuchung von Potiphars Frau widersteht, oder um Josia, der dem versammelten Volk das vergessene Gesetz Gottes vorliest, oder um David, der sich mutig Goliath stellt, und du destillierst die Lektion für das Leben heraus - wie z.B. Flucht vor der Versuchung, Liebe zur Schrift und Vertrauen auf Gott in der Gefahr -, aber du beendest die Predigt an dieser Stelle. Dann verstärkst du nur den voreingestellten Selbsterlösungs-Modus des menschlichen Herzens. —Tim Keller, Preaching, Kindle ed., Kapitel 2., meine Übersetzung

Erkennst du die Gefahr? Unsere Herzen sind auf Eigenständigkeit ausgerichtet. Deshalb müssen wir uns vom bloßen Moralismus lösen, wenn wir die Bibel auf die Liebe zu Gott und zu unseren Nächsten anwenden. Denk daran (um Tim Keller zu zitieren): In der Bibel geht es nicht in erster Linie um dich - wer du bist, und was du tun sollst. Nein, es geht um Jesus - wer er ist, und was er getan hat. Er ist der "Zündschlüssel", derjenige, der uns durch seinen Geist zum Gehorsam befähigt. Wenn wir den Fehler des "bloßen Moralismus" begehen, bringen wir das Flugzeug der Anwendung zum Absturz. Wir haben uns törichterweise auf menschliche Kraft und Weisheit verlassen und vergessen, worum es eigentlich geht: in die Höhe zu steigen und Christus zu verherrlichen.
Paulus warnt im Galaterbrief vor dem bloßen Moralismus und seiner mangelnden Christus-Bezogenheit:
O ihr unverständigen Galater, wer hat euch verzaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht, euch, denen Jesus Christus als unter euch gekreuzigt vor die Augen gemalt worden ist? Das allein will ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist durch Werke des Gesetzes empfangen oder durch die Verkündigung vom Glauben? Seid ihr so unverständig? Im Geist habt ihr angefangen und wollt es nun im Fleisch vollenden? So viel habt ihr umsonst erlitten? Wenn es wirklich umsonst ist! Der euch nun den Geist darreicht und Kräfte in euch wirken lässt, tut er es durch Werke des Gesetzes oder durch die Verkündigung vom Glauben? Gleichwie Abraham Gott geglaubt hat und es ihm zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, —Galater 3:1–6

Fehler 2: Abgehobene Abstraktion

Es gibt jedoch auch einen gegenteiligen Fehler, den es zu vermeiden gilt. Während wir mit den Kontrollen ringen, damit die Nase unseres Flugzeugs nicht nach unten zeigt, müssen wir den entgegengesetzten Fehler vermeiden, nämlich zu schnell aufzusteigen! Dies führt ebenfalls zu einem Sturzflug und einer Bruchlandung.
Wenn bloßer Moralismus ein Mangel an Christus-Bezogenheit ist, dann ist abgehobene Abstraktion ein Mangel an Konkretheit. Die Bibel verlangt von uns, dass wir ihre Lehren auf konkrete und spezifische Weise anwenden. In der Tat hat Gott uns in Christus geschaffen und erlöst, damit wir als seine Ebenbilder leben, als Menschen, die ihn widerspiegeln und repräsentieren, indem sie seinen Worten in allen Bereichen des Lebens gehorchen. Jesus Christus ist der "Schlussstein", der die ganze Schöpfung eint und ihr einen Sinn gibt. Daher soll sein Evangelium jeden Winkel unseres Lebens verändern. Wenn also "Glaube an Jesus, vertraue dem Evangelium" deine einzige Anwendung für jeden Text ist, den du liest, wendest du den Text nicht treu an. (Und du glaubst auch nicht treu an Jesus und vertraust dem Evangelium nicht!)
Johannes ruft in seinem ersten Brief zum echten Glauben an Christus auf, der konkreten Gehorsam hervorbringt:
Wenn wir seine Gebote halten, wird uns bewusst, dass wir ihn kennen. Wenn jemand behauptet: „Ich kenne Gott!“, aber seine Gebote nicht hält, ist er ein Lügner, in dem die Wahrheit nicht wohnt. Wer sich aber nach seinem Wort richtet, bei dem ist die Liebe Gottes zum Ziel gekommen. Und genau daran erkennen wir, dass wir mit Christus verbunden sind. Wer also behauptet, mit Christus verbunden zu sein, soll auch so leben, wie Christus gelebt hat. —1. Johannes 2:3–6, Neue evangelistische Übersetzung

Sicher fliegen: bibeltreue Anwendung

Wenn wir die Bibel richtig anwenden, sagen wir nicht nur: "So sollst du leben", und auch nicht nur: "Glaube an Jesus, vertraue dem Evangelium". Stattdessen zeigt bibeltreue Anwendung, wie man in Christus leben sollte.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun. —Johannes 15:5
Schauen wir uns dieses Prinzip einmal genauer an:
Biblische Anwendung zeigt, wie du in Christus leben solltest.

wie du leben sollst

Die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist konkret und lebensnah. Sie zielt auf die tägliche Realität unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen ab.

in Christus

Die biblische Anwendung ist auch in unserer Vereinigung mit Christus verwurzelt. Wir sind frei und uns ist vollständig vergeben, wir sind unveränderlich geliebt, frei von Sündenschuld, lebendig für Gott durch die Vereinigung mit Jesus. Aufgrund von Jesus sind wir in der Lage, Gottes Wort durch die Kraft des uns innewohnenden Geistes zu gehorchen. Diese Tatsachen des Evangeliums befähigen und motivieren uns, im Gehorsam so zu leben, dass es unserem Herrn gefällt (Kolosser 1:10). Ein solcher durch den Geist gestärkter Gehorsam erhebt nicht uns wegen unserem Gutsein, unserer Weisheit oder unserer Stärke. Stattdessen erhebt er Gott in Christus!
Denn die Liebe des Christus drängt uns, da wir von diesem überzeugt sind: Wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben; und er ist deshalb für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist. —2. Korinther 5:14–15

Epheser: Ein biblisches Beispiel

Ein biblisches Beispiel für treue Anwendung finden wir im Buch Epheser. In Epheser 1 - 3 beginnt Paulus mit der Verkündigung des Evangeliums, einschließlich unserer Vorherbestimmung durch den Vater, unseres neuen Lebens in Christus, unserer Versiegelung mit dem Geist und unserer Identität als eine Gemeinde. Dann fordert er seine Leser auf, dieses Evangelium auf konkrete Weise anzuwenden. Sieh dir die folgenden Abschnitte aus Epheser 4 - 6 an:
So ermahne ich euch nun, ich, der Gebundene im Herrn, dass ihr der Berufung würdig wandelt, zu der ihr berufen worden seid, indem ihr mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut einander in Liebe ertragt und eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens. —Epheser 4:1–3
Darum legt die Lüge ab und »redet die Wahrheit, jeder mit seinem Nächsten«, denn wir sind untereinander Glieder. Zürnt ihr, so sündigt nicht; die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn! Gebt auch nicht Raum dem Teufel! Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern bemühe sich vielmehr, mit den Händen etwas Gutes zu erarbeiten, damit er dem Bedürftigen etwas zu geben habe. Kein schlechtes Wort soll aus eurem Mund kommen, sondern was gut ist zur Erbauung, wo es nötig ist, damit es den Hörern Gnade bringe. —Epheser 4:25–29
Unzucht aber und alle Unreinheit oder Habsucht soll nicht einmal bei euch erwähnt werden, wie es Heiligen geziemt; auch nicht Schändlichkeit und albernes Geschwätz oder Witzeleien, die sich nicht gehören, sondern vielmehr Danksagung. —Epheser 5:3–4
Ihr Frauen, ordnet euch euren eigenen Männern unter als dem Herrn; ... Ihr Männer, liebt eure Frauen, gleichwie auch der Christus die Gemeinde geliebt hat und sich selbst für sie hingegeben hat, —Epheser 5:22, 25
Und wie kam Paulus zu diesen Geboten? Beachte das "So" in 4:1, was eine Folgerung ausdrückt. Er sagt: "Aufgrund des Evangeliums, das ich euch soeben verkündet habe, lebt in Demut, Liebe, Wahrheit, Mühe und reiner Rede." Rechte Lehre führt zu rechter Praxis, und rechte Praxis baut auf rechter Lehre auf. Und unser Herr Jesus Christus eint und befähigt alle, weil sowohl die rechte Lehre als auch die rechte Praxis von ihm abhängen und auf ihn fokussieren.
Alle Theologie ist praktisch. Alle Praxis ist theologisch. —Pastor Michael Foster, Jonathan Edwards paraphrasierend, meine Übersetzung
Bibelauslegung